Bayreuther-Carlé und Koller

Rainer Bayreuther (1/2022)

Götter hören, göttlich singen

Martin Carlé und Hermann Koller über das Orakel der alten Griechen



An Martin Carlé in Athen hatte ich die Bitte gerichtet, den blog mit einem Text zum Thema Klang und Gott zu bereichern. Bei dem in die Frömmigkeit der alten Griechen eingetauchten Freund müsste man vielleicht eher sagen: Klänge und Götter. Er sagte mir ab: er sei mit anderen Textpflichten ausgelastet und habe keine Zeit, sich mit dem „abenteuerlichen“ Thema zu befassen. Ich bin gewiss, das Adjektiv gebrauchte er im besten Sinn. Denn aus allen seinen Texten, die zum Schwierigsten und zugleich zum Aufschlussreichsten zählen, was ich gelesen habe, spricht, dass er in eigenen Erfahrungen und Überlegungen sich auf dieses Abenteuer immer wieder einlässt. Stets steuern seine Texte auf das Göttliche zu. Nicht weil eine persönliche Frömmigkeit durchzuarbeiten wäre. Das Göttliche ist wie ein weit erntfernter Magnet, von dem sie angezogen werden.


Im Postscriptum seiner Absage gab Martin Carlé einen schlichten Hinweis auf eine Fußnote in seiner Doktorarbeit, die sich mit der Harmonik des Aristotelesschülers Aristoxenos befasst. Die Fußnote hat es in sich. Sie berichtet zunächst davon, wie er die Orakelstätte in Delphi persönlich in Augen- und Ohrenschein nahm. Sie führt dann den Altphilologen Hermann Koller an, der in seinem Buch Musik und Dichtung im alten Griechenland (1963) und in einem tief in die sprachwissenschaftlichen Details gehenden Aufsatz nicht weniger als die etymologische Abhängigkeit des griechischen Worts theos (Gott) von dem Adjektiv thespis (weissagend, ein empfangenes Orakel wiedergebend) aufzeigt. Das ist für das Thema dieses blogs schlechterdings bahnbrechend. Denn eine Weissagung durch eine Orakelpriesterin beruhte auf einem Höreindruck. Die griechischen Orakelstätten waren, vor allem anderen, Stätten des Hörens. Martin Carlé stellt das klar für das delphische Orakel. Für das noch ältere Orakel von Dodona ergibt es sich aus genau den sprachlichen Zusammenhängen, die Koller eröffnet. Von einer Göttin (Muse, Nymphe, Sirene) eine Weissagung über den Lauf der Dinge empfangen zu haben heißt sehr konkret, eine Hörwahrnehmung gemacht zu haben. Die Orakelpriesterin in Dodona hörte etwas, indem sie dem Hauchen lauschte, das vom Wind aus den Eichen und um den Felsen herum kam. Und die Weissagung wurde ihrerseits auditiv übermittelt, nämlich in dem gesungenen Hexameter, in dem die Orakelpriesterin weissagte.


Kollers entscheidende Erkenntnisse zum Singen in der archaischen Zeit der Griechen sind:
– Wer singt, muss vorher vorgesungen bekommen haben. Anders gesagt, wer singt, orakelt. Das Singen der Epensänger Homer oder Hesiod ist performativ dasselbe wie das Weissagen einer Orakelpriesterin.
– Wenn von einem Singen gesagt wird, es sei göttlich, wird die Göttlichkeit an eine bestimmte Performativität gebunden, nämlich die des Orakelns, was konkret heißt, eine Weissagung hörend empfangen zu haben und sie singend weiterzugeben.
– Die Silben thes- und theo- haben in dieser Performativität ihre gemeinsame etymologische Wurzel, und diese Wurzel ist auditiv: dhus, ein vernommener Hauch aus einem Baum in Dodona.
– Nur insofern diese Performanz gegeben ist, formt sich (bei Homer (um -800) und Hesiod (um -700))
thespis zu theios (göttlich, heilig) oder theos (Gott) um.

Gott ist Klang, so könnte man diese Analyse aus dem archaischen Griechenland zuspitzen. Man kommt zu ihr freilich erst, wenn man sich rückhaltlos darauf einlässt, die Medialität und Performanz in Dingen wie „singen“, „Sänger“ und „Gott“ aufzuspüren.

Diese Zusammenhänge sind so tiefschürfend und so unerschöpflich, dass ich Martin um einen Extratext eigentlich gar nicht hätte bitten müssen. Einmal mehr hat er mich beschämt mit seinen Einsichten. Sie liegen vor (
hier seine Dissertation von 2018 an der HU Berlin). Es reicht, sie zu zitieren und mit den Texten Hermann Kollers zu ergänzen. Ich beginne mit der besagten Fußnote:

„Nach etlichen Besuchen der archäologischen Stätten und des Museums am touristisch eingefassten Ort führte schließlich erst die Begehung der Landschaft auf dem alten Pilgerweg vom Hafen des heutigen Κίρρα durch die silberglänzenden Olivenhaine über das klassische Δελφοί hinaus auf die blumige, östlich von der Quelle Κρόκι gelegene Hochebene und dann weiter hinauf zur Κωρύκειον Άντρον, der ‚Späherhöhle‘, von wo aus sich endlich der historische Weitblick auf die ganze Orakelanlage zu Delphi zu öffnen beginnt. Nicht dass man nach dem finalen Durchschreiten des eigentümlich dreieckförmigen Eingangs nur den Fußstapfen des Pausanias gefolgt wäre, wenn man im Zwielicht des Inneren die Inschrift ΠΑΥΣΑΝΙΑΣ ΚΑΙ ΕΓΩ ΕΣ ΔΕΛΦΟΥΣ zu lesen bekommt, noch dass die symbolische Pforte schon den geometrischen Imperativ des akademischen Wissens präfigurierte. Nein! Die atemberaubend riesige Empfangshalle von ca. 90m x 60m mit ihrer einzigartigen Akustik lässt einen die Ohren anlegen und verstehen, dass für diesen uralten Tanzplatz des Pan und seinen Korikyischen Nymphen der moderne Volksmund mit Σαρανταύλι (= 40 Auloi) wohl den sprechendsten aller Namen gefunden hat.

Die Stimmmächtigkeit des Echoklangs, der sich über einen zweiten Raum bis in einen schmalen, unabsehbar weiterführenden Tunnel fortpflanzt, zerstreut darüber hinaus jeden Anklang eines mythenverlorenen Glaubens in alle Winde, dass man sich nun vom Nabel der Welt, weiter auf dem Weg ins hohlweltliche Zentrum der Erde, dessen Eingang man hier vermutete, befände. Genauso deutlich vernehmbar aber weicht die mythenvergessene Hypothese der Moderne, Delphi müsse wohl auf einem narkotische Gase ausdünstenden Erdspalt errichtet worden sein, einem wider und wieder, aus 40 Mündern schallenden Gelächter. Es wird an diesem urwüchsigen Innenohr der Griechen auf einmal klar, dass die mantisch geerdeten Orte Griechenlands, an denen sich die göttlich-redende Stimme vornehmlich zu hören gab – denn „aus Aufrichtigkeit genügte eine Eiche oder ein Stein, solange er nur die Wahrheit sprach“ [Platon: Phaidros 275b] –, seit je her im atmosphärischen Zusammenspiel von Klang und Atem untereinander in Verbindung stehen:



Kollers später, seinen umfänglichen Schriften zur Musik und Dichtung nachgeschobener Artikel ΘΕΣΠΙΣ ΑΟΙΔΟΣ zieht schließlich ebendieses letzte Register etymologisch. Gestützt auf V. Pisani und A. Pagliaro und da „nicht θεο- zu θες- werden kann“, liege in der Ableitung aus der Wurzel θεσ-, zurückgehend „auf dhus-, ‚atmen, blasen‘“ in den „sehr alten Bildungen“ θέσφατος, *θέσπετος und θέσκελος die Bedeutung „‚vom Winde verkündet‘, vom Wind (oder Hauch) angesagt (zu ἐνισπεῖν), ‚vom Hauch geheißen, befohlen‘“ und erinnerten „an das Orakel vom Zeushain in Dodona“. „θέσ- ist also nicht von θεός aus zu erklären, sondern umgekehrt: θεός aus der in der Vorsilbe θεσ- überlieferten Wurzel ‚atmen, hauchen‘“.
Abschließend den ganzen Bogen (quasi noch als Vorwort zu Havelocks Vorwort zu Platon) zusammenfassend hieße dies: „weil erzählende Dichtung im Hexameter über den Orakelvers des Prooimions entstanden ist, so leitet sich der θεῖος ἀοιδός des Epos letztlich vom *θεσπιαοιδός, dem ‚durch Vers das Orakel Verkündenden‘ her, und es ist weit mehr als nur ein geistreicher Vergleich einer romantisierenden Zeit, wenn viel später die Tätigkeit des Sehers und des Sängers mit θεσπιῳδεῖν bezeichnet wird. In [Platon] Axiochos 367d werden die Dichter mit den Sehern verglichen οἵ ποιήμασι θειοτέροις τὰ περὶ τὸν βίον θεσπιῳδοῦσιν.“[Hermann Koller. „ΘΕΣΠΙΣ ΑΟΙΔΟΣ“. In: Glotta 43 (1965), S. 277–285, S. 284f.]“ (Martin Carlé: Verzeitlichung des Unsäglichen. Die Dynamis des Aristoxenos als zeitkritische Systemik im melodischen Potenzraum der Harmonie, Diss. HU Berlin 2017, S. 39f.)


Anstatt die komplexe sprachwissenschaftliche Argumentation Kollers in den Glotta zu zitieren, gebe ich die leichter verständlichen Ausführungen wieder, die Koller in Musik und Dichtung im alten Griechenland aus dem Befund entwickelt hat:


„Wie die Nymphen von den Menschen Besitz ergreifen konnten, die dann als Nymphenleptoi sich von den übrigen Menschen absonderten, so konnten auch die Musen Einzelne „entrücken“ und ihnen besondere Gaben schenken, die sie vor den anderen Menschen auszeichneten. Ein sehr früher Zeuge ist Hesiod in den Einleitungsversen seiner Theogonie. Darin schildert er, wie er zum Dichter berufen wurde:

Die Musen lehreten einst Hesiod den schönen Gesang,

Als er an Helikons Fuße weidet die Schafe.

Doch erst die Göttinnen herrschten mich an mit den Worten

Die olympischen Musen, die Töchter des aigishaltenden Zeus:

Ihr tölpischen Bauern, ihr Rüpel, nur Bäuche seid ihr,
Wir können viel Täuschungsreiches berichten, dem Wahren so ähnlich,
Wir können das Wahre verkünden auch, wenn wir es wollen.
So sprachen die Töchter des großen Zeus, die Wortgewaltigen,
Einen Stab sie mir gaben, den Zweig des grünenden Lorbeers,
Den sie gepflückt, den schönen, weissagenden Sang einhauchten
Sie mir, damit ich verkünde, was sein wird oder zuvor war.
Das Geschlecht der Sel’gen sollt’ preisen ich, der immer Seienden,
Zum Anfang und Schluß sie selber besingen im Lied.
Doch was soll ich denn mit dem Felsen, der Eiche?

Wenn wir diese „Dichterberufung“ ohne Rücksicht auf das Werk, in der sie steht, auf uns wirken lassen, so müssen wir uns fragen, welche Art Dichtung hier Hesiod von den Musen bekommt. Es springt sofort in die Augen, daß er verkünden soll „Was sein wird oder zuvor war“, daß er als „Prophetes“, „Verkünder“ wirken soll, denn genau so mit dem wörtlich fast gleichen Vers wird bei Homer der Seher Kalchas charakterisiert: „Der erkannte, was ist, was sein wird oder zuvor war.“ Dabei ist doch ein merkwürdiger Widerspruch zwischen dieser Berufung Hesiods zum Seher und der tatsächlichen Tätigkeit Hesiods festzustellen, denn weder die „Theogonie“ noch die „Werke und Tage“ scheinen diese prophetische Aufgabe zu erfüllen. Dieser Widerspruch ist schon antiken Erklärern aufgefallen. Sollte also diese „Berufung“ gar nicht in einem äußerlichen Sinn als persönliches Erlebnis Hesiods zu verstehen sein, sondern in ihrer Typik für diese Art Dichtung verpflichtend gefordert sein? Denn es ist ja auch nicht anzunehmen, daß Hesiod plötzlich aus dem unwissenden Hirten zum Rhapsoden geworden wäre, der nun souverän die Technik der hexametrischen Dichtung beherrscht, eine Technik, die jahrelange Schulung voraussetzt. Wir müssen daher die einzelnen Motive dieser Dichterberufung sorgfältig herausstellen:
Hesiod ist ein unwissender Schafhirte, der plötzlich die Gunst der Musen erfährt, „sie lehrten mich den schönen Gesang“. Tölpische Bauern, Rüpel, Menschen, die nur dem Erwerb und der Stillung der Notdurft leben, keine Gebildeten, sind es, an die sich die Musen wenden. Ihre Gabe ist also reine Gnade, nicht Verdienst des auserwählten Menschen. „Wir können viel Täuschungsreiches berichten, dem Wahren so ähnlich / Wir können das Wahre verkünden auch, wenn wir es wollen.“ Das, was die Musen verkünden, kann in die Irre führen oder auf den richtigen Weg, denn das Täuschende sieht aus wie das Wahre. (…)
Die Musen geben Hesiod einen grünenden Lorbeerzweig und hauchen ihm den Gesang ein, der hier thespis genannt wird; dieser Gesang dient ihm dazu zu verkünden, „Was sein wird oder zuvor war“. Beides, der Lorbeer und dieser Thespis-Gesang, meint offensichtlich dasselbe: Der Sänger, der hier von den Musen seine Gaben bekommt, verkündet Zukünftiges oder deutet Vergangenes, denn auch der Lorbeerzweig ist das Zeichen der Verkündigung des göttlichen, nichtmenschlichen Wissens. So erklären auch die antiken Scholiasten diesen Vers folgendermaßen: „Der Lorbeer verursacht die göttliche Erregung (Enthusiasmus)…, und die Gedichte werden unter göttlicher Eingebung gesprochen.“ Daher wird die Pythia, wenn sie auf dem Dreifuß der Musen sitzt, mit dem Lorbeerzweig in der Hand abgebildet und auch Apollon. Selbst der späte Lukian hat Hesiod noch so verstanden: „Hesiod, du beweist, daß du ein sehr guter Dichter bist, und du sagst es ja selber in deiner Dichtung, daß du diese Gabe von den Musen mit dem Lorbeer erhalten hast. Alles ist ja voll des Gottes (enthea) und erhaben, und auch wir glauben, daß es sich so verhält.“ Hingegen hält Lukian dem Dichter vor, das Zukünftige komme in seinem Werk gar nicht vor. Wir müssen diesen Einwand durchaus ernst nehmen, denn es ist tatsächlich so: das, wozu sich Hesiod hier berufen fühlt, kommt in seinem Werk nur zum geringsten Teil vor. Einzig die beiden folgenden Verse lassen sich mit seinem Werk, der Theogonie, zur Deckung bringen:

Das Geschlecht der Sel’gen sollt’ preisen ich, der immer Seienden,
Zum Anfang und Schluß sie selber besingen im Lied,

denn Geburt, Werden und Vergehen der Göttergeschlechter und ihre Beziehungen zueinander sowie das Lob der Musen bilden den ganzen Inhalt seines Werkes.

Wohl der merkwürdigste Vers steht aber am Schluß der Berufung:

Doch was soll ich denn mit dem Felsen, der Eiche?

Was weist denn Hesiod mit diesem halb unwillig gesprochenen Vers von sich? Jeder Hörer Hesiods mußte dabei unwillkürlich an Eiche und Fels von Dodona, dem Zeusheiligtum im Epirus, denken. „Felsen und Eiche“ sind sprichwörtlich für „Weissagung“, wie sie dort gepflegt wurde. Das zeigt auch eine hünsche Stelle bei Platon: „Man sagt, daß im Heiligtum des dodonäischen Zeus zuerst Orakelworte ertönt seien. Den Menschen jener Zeit aber genügte es, sie von der Eiche und dem Felsen zu vernehmen, weil sie noch nicht so gescheit waren, wie Ihr Jungen, sondern naiv, wenn die Orakel nur die Wahrheit sagten.“ [Die auch von Martin Carlé zitierte Platonstelle Phaidros 275b.] Hesiod nimmt also eigentlich nur einen Teil des Auftrags der Musen an, Musen und Götter zu besingen, weist aber die Verkündung der Orakel von sich.
Wir sehen also, daß offenbar der Dichter der Theogonie in einer ganz bestimmten Tradition steht, zu welcher die thespis aoidé, die Verkündung der Orakel im hexamentrischen Vers, gehört; er übernimmt aber nur die Erzählung vom Werden der Götter im Hexameter. Diese ganze Motivverknüpfung läßt nur den Schluß zu: Theogonische hexametrischen Dichtung und das hexametrische Prooimium sind aus dem Orakelhexameter abgeleitet. (…)
Von diesem neugewonnenen Standpunkt aus werden uns noch andere, bisher befremdliche Einzelheiten der Dichterberufung klar: die täuschenden Worte, welche dem Wahren so ähnlich sind und das Wahre, das die Musen verkünden, sind beides die Orakel, und zwar die Trugorakel und die echten, welche sich aber nicht voneinander unterscheiden lassen und welche erst durch den Eintritt des verkündenden Ereignisses in „täuschende, trügende“ Orakel und solche, welche „Wahres“ verkündet haben, aufgeteilt werden können. Das wohl bekannteste Beispiel eines solchen täuschenden Orakels ist das, welches der Lyderkönig Kroios einst von Delphi erhalten hatte: „Wenn Kroios den Halys überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören.“ Es ist eine Verkündung, welche den hybriserfüllten Menschen in die Irre führt, täuschende Worte, die auf ganz verschiedene Weise verstanden werden können und erst durch das Ereignis fixiert werden.
Zu dieser Motivik der Dichterberufung bei Hesiod gibt es übrigens eine sehr hübsche, wenig beachtete Parallele beim Kreter Epimenides (um die Mitte des sechsten Jahrhunderts). Er erzählt in seinem Gedicht, wie er einst auf der Suche nach einem verlorenen Schaf seines Vaters in die Höhle des diktäischen Zeus geraten sei. Dort fiel er in einen jahrzehntelangen Schlaf. Im Traum erhielt er die Aufforderung, zu dichten. Ein Vers ist aus dieser Berufung erhalten: „Ihr Kreter seid Lügner, schlimme Tiere, faule Bäuche.“ Auch hier wird also der Hirte, der Unwissende, der unter den Tölpeln, Fressern und kulturlosen Menschen lebt, der Gnade der Prophetie teilhaftig. Epimenides wird zum Prophetes, zum Verkünder des Gottes und sein Werk, eine Theogonie, wie die Hesiods, nennt er Chresmoi, „Orakel“. Als Sühnepriester wird er nach Athen berufen, um eine kultische Reinigung zu vollziehen. Epimenides vertritt also einen weit älteren Typus des Sängers als Hesiod. Er ist eine späte Verkörperung des Schamanen, des Sehers und Sängers, wie einst Orpheus, Amphion, Linos und andere es waren. Ich teile nicht die geläufige Auffassung, daß Epimenides in der Nachfolge Hesiods stehe und den zitierten Vers nach dem Prooimium Hesiods gedichtet habe, weil die Verbindung seiner Motive viel ursprünglicher ist. Wesentlicher als diese doch sekundäre Frage ist aber, daß Epimenides seine theogonische Dichtung Chresmoi, Orakel nennt und als Prophetes im Orakelvers, im Hexameter, verkündet: Er vertritt also genau den Typus des vates, des Sängers und Sehers, wie er aus der Motivreihe des traditionellen Prooimions bei Hesiod abgeleitet werden muß. Demgegenüber ist Hesiod weit moderner, weil er die theogonische Dichtung abgelöst hat von der Verkündung der hexametrischen Orakel. Einen weiteren Beweis für die hier dargelegte Ableitung theogonischer, prooimialer Dichtung aus dem Orakelhexameter ergibt auch der Ausdruck thespis aoidé, was nicht einfach „göttlicher Gesang“ heißt, wie man annimmt, sondern „orakelverkündender Gesang“. Diese linguistische Beweisführung muß ich aber auf eine andere Gelegenheit aufsparen. [Das ist der Aufsatz in den Glotta 1965.]
Auch dem homerischen, epischen Sänger kommt die Eingebung von Gott, „der ihn antreibt“. Der Sänger Phemios bittet den rächenden Odysseus um sein Leben:
Töte mich nicht! Du würdest es hinfort selber bereuen,
Wenn du den Sänger erschlügst, der Göttern und Menschen gesungen!
Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei Lieder
Mir in die Seele gepflanzt! Ich verdiene, wie einem der Götter,
Dir zu singen.
„Der homerische Sänger kommt nicht darauf, sich ein eigenes ‚Genie‘ anzumaßen, sondern beläßt die unbegreifliche Wunderkraft den Göttinnen, von denen sie stammt: Sie allein sind die Wissenden, er hört nur die Kunde und weiß selber nicht, wofern die Göttinnen ihm nicht Erinnerung schaffen.“ Dadurch zeichnet sich der Dichter von allen übrigen Menschen aus, daß er der Stimme der Musen oder des Gottes würdig ist. Dem Charakter epischer Ruhe und Weltweite gemäß ist auch diese göttliche Eingebung: sie ist ein übermenschliches Wissen, nicht mehr der Rausch des Enthusiasmus, die Entrückung des gotterfüllten Sehers und Sängers. (…)
Im tiefsten Wesen der nymphischen Musen gründet dieses Wissen um die göttliche Herkunft von Dichtung und Musik. Bald wird es lebendig empfunden, bald verkapselt es sich zu einem erstarrten Motiv, immer wieder bereit, als geistige Form zu neuem Leben zu erwachen bei der Berührung mit einem kongenialen Geist. (…)
Der Enthusiasmus, die Begeisterung durch die Musen, bildet den Ursprung der Musik und Dichtung für eine weit ins fünfte Jahrhundert hinaufreichende Theorie der griechischen Musiké. So kann gewiß auch der Bericht Plutarchs über die Musenverehrung in Delphi nicht als eine Erfindung eines Periegeten (Fremdenführers) abgetan werden, wenn er erzählt, wie die Musen gerade mit dem ältesten Heiligtum Delphis, dem vorappollinischen Tempel der Ge und mit der heiligen Quelle verbunden sind, und zwar als weissagende Mächte: „Es gab in Delphi einen heiligen Bezirk der Musen, dort wo die Dämpfe der Quelle aufstiegen, weshalb man diese Wasser für die Trankspenden braucht, wie Simonides sagt: „Da wird mit Schalen das heilige Wasser der schönlockigen Musen herausgeschöpft“, und wiederum etwas ausführlicher spricht Simonides die (Muse) Kleio an: „reine Aufseherin, Vielangerufene, der Wasserschalen …, die Musen aber verehrten sie als Besitzerinnen des Orakels und Wächterinnen bei der Quelle und dem Heiligtum der Ge, von der man sagt, daß ihre Verkündigung Gesang in Vers und Lied gewesen sei.“ Es ist sehr wahrscheinlich, daß gerade dies lediglich eine Kombination ist aus der Tatsache, daß die Musen am Inspirationsquell der Ge seit altersher heimisch waren und daß das delphische Orakel im musikalischen Hexameter erteilt wurde. Aus jener grauen Vorzeit haben sich selbstverständlich weder Orakelverse noch Lieder erhalten.“ (Hermann Koller:
Musik und Dichtung im alten Griechenland, Bern 1963, S. 28-36)

Vielleicht kommt der Gedanke auf: Was soll das uns Christen besagen? Wir glauben doch nicht an Orakel, die Vergangenheit und Zukunft weissagen. Wir glauben doch nicht an Apollon, Zeus und die Korykischen Nymphen. Das stimmt. Aber eine entscheidende Sache in Carlés und Kollers Befunden unterläuft diesen Einwand. Die Götter der Griechen sind im Modus des Orakelns. Und das Orakel ist im Modus des Hörens und Singens. Sie existieren in diesen medialen Performanzen und nur in ihnen. Man kann nicht an diese Götter oder göttlichen Eigenschaften glauben außerhalb dieser medialen Praktiken. Genau darauf läuft die etymologische Ableitung Kollers hinaus. (Ich denke, diesem elementaren religionswissenschaftlichen Axiom, dass Glaubensinhaltenicht unabhängig von Medienpraktiken existieren, unterliegt auch das Christentum, auch wenn sich die christliche Dogmatik dagegen sträubt. Je weiter das Christentum in die digitale Ära einmündet, umso deutlicher wird das werden, aber das wäre ein weiteres Thema.) Und eben deshalb ergibt sich daraus auch ein Argument, was das für uns besagen kann. Wir können die in den alten Religionen beschriebenen medialen Schauplätze – eine Eiche, ein Stein, in Dodona und anderswo – und ihre religiösen Medienpraktiken als Stätten auffassen, an denen sich eine göttliche Begegnung machen lässt. Und zugleich sind wir nicht gezwungen, sie mit den Namen und Geschichten von Homer und Hesiod zu deuten. Wir sind frei, das mit dem Evangelium zu tun.




Share by: