Bayreuther-Sound Manifesto

Rainer Bayreuther (12/2021)

Klangwegmarken

Ein Editorial zum Blog klangkirche24


klangkirche24.de ist ein Ort, an dem der Zusammenhang von Klang und Religiosität gedacht werden kann. Dieser Zusammenhang ist kein notwendiger: nicht jedes Klangereignis ist religiös, nicht jedes Gottesereignis klanglich. Aber Klang ist eine religiös privilegierte Episteme: Wo ein Gottesereignis im auditiven Kanal stattfindet, da wird es am unmittelbarsten über seine Klanghaftigkeit verstehbar.


Für dieses epistemische Feld sei klangkirche24.de ein Ort. Ich bin sicher, dass auf diesem Feld schon viele Erfahrungen gemacht wurden. Aber jede von ihnen scheint noch vereinzelt, sie haben noch keine Theorie (im Ur-Sinn von theoria als Schauspiel oder Fest), noch keine Theologie, noch keinen Punkt in der Heilsökologie. Das wird sich erst allmählich abzeichnen. Mit jedem Beitrag, aus welchem religiösen Bezirk immer er stammt, wird das etwas deutlicher werden. Was ich mit der religiös privilegierten Episteme Klang meine - in einem Buch habe ich sie den Sound Gottes genannt -, sei in sieben Punkten umrissen. Sie werden nach einiger Zeit und einigen weiteren Beiträgen wohl kaum mehr als Wegmarken gewesen sein, an denen man sich orientiert, die man aber auch hinter sich gelassen hat.



1. Sound und Musik
Sound steht auf der Schwelle von Welt, Mensch und Gott. Wenn sich Sound ereignet, ereignet sich etwas an dieser Schwelle. Sie wird in beide Richtungen überschritten. (Im Unterschied zur (Kirchen-)Musik, die auf der Menschenseite steht.) Es gilt, im Sound die Musik zu hören und in der Musik den Sound. So etwa wie Walt Whitman im Song of Myself zu den vielen Sounds in diesem Gedicht sagt: "All this indeed is music."


Eine Wegmarke (die uns wie die folgenden Orientierung gibt, an der wir und ich selber aber vorbeigehen müssen): Rainer Bayreuther: Der Sound Gottes. Kirchenmusik neu denken, München 2021



2. Sound und Technologie
Es gibt eine zu denkende, von Alan Turing und Claude Shannon aber schon wesentlich vorgedachte Verwandtschaft von Sound und Technologie. Sie ist absolut ursprünglich. Ökologische und theologische Konzepte des Zusammenhangs von Sound, Gott und Kosmos, die in diesem Forum dringend gesucht sind, können ihn nicht unterlaufen. Sounds sind somit unmittelbar der technologischen Arbeit zugänglich, ohne dass ihre Ursprünglichkeit verfälscht würde, im Gegenteil.


Eine Wegmarke, wie die anderen zum vorbeigehen: Friedrich A. Kittler: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, Berlin 2013


3. Sound und Ökologie
Klänge sind Zeitorte: expandierende Ereignisräume. Sie erfassen alle dort befindlichen physischen Dinge mit ihrer Schwingung, lassen sich aber auch von den Dingen mit ihren Resonanzeigenschaften erfassen. Schwingungsenergie und Dinge gehen Symbiosen ein. Es wäre ein fatales Missverständnis, wenn wir Menschen uns als Sender und die Dinge (die Instrumente, die Hörer, das Mobiliar) als Empfänger von Sound begriffen. Sound ist letztlich das unruhige, fragile, symphonisch und sympoietisch zu kultivierende Spiel der Schwingungskräfte am Zeitort. Soundarbeit ist eminent ökologische Arbeit.


Wegmarke: Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt a.M. 2018




4. Sound und Mensch
Menschengemachte Klänge stehen auf einer Stufe mit Sounds aus Natur und Technik. Alle sind sie gleichursprünglich. Menschensound hervorzuheben wäre humanistische Hybris. An den Menschenworten interessiert vor allem ihr Klang. Ihre Bedeutung ist nicht unwichtig, wichtiger aber, dass sie ein Funktionswert des Klangs ist. Der Perspektivwechsel vom Wort oder Ton zum Sound ist gleichbedeutend mit dem Perspektivwechsel vom profanen einzelnen Menschen zu einem hybriden Ökosystem, das der göttlichen Schöpfung allemal näher ist als ein durchrationalisiertes Ego.

Wegmarke: Friedrich Hölderlins Hymne Der Rhein (der Fluss ist eine Metapher für den Menschen und für seinen Ort)



5. Sound und Akteure
Ein Soundereignis hat viele Akteure, belebte und unbelebte. Sie stehen alle auf einer Stufe, keiner ist nur Sender oder nur Empfänger. Erst das resonierende Zusammenwirken aller bildet das Ereignis. Sound ist ein lokales sonisches Ökosystem. Das Netzwerk ist zu thematisieren, nicht die Akteure je für sich. Dass hier nachrichtentechnische Kategorien wie Speicher, Latenz, Signal und Information ins Spiel kommen und die tradierten ästhetischen oder theologischen Begrifflichkeiten in sich aufsaugen, muss nicht irritieren. Im Gegenteil, erst mit ihnen wird die Ökologie von religiösen Klangereignissen konkret.


Wegmarke: Isabelle Stengers: „Der kosmopolitische Vorschlag“, in dies.: Spekulativer Konstruktivismus, Berlin 2008, S. 153-185



6. Sound und Gott
„Heilig scheint der ort / drin schlägt die nachtigall“ (Sophokles: Oedipus auf Kolonos, übers. D.E. Sattler). Nicht jeder Sound, nicht jeder Nachtigallenschlag ist göttlichen Ursprungs. Aber sie können es sein. Göttliche Anwesenheit gibt sich kund durch Sound. Die Mittlerinstanzen Kirche, Kultur, Religion braucht es dafür eigentlich nicht, Daher wird die Anwesenheit von Gott in Sound hier un-mittelbar erörtert.


Wegmarke: Hermann Koller: Musik und Dichtung im alten Griechenland, Bern 1963



7. Sound und Religion
Klangmythen, Klangriten, klingend sich zeigende Gottheiten gibt es in allen Religionen. Sie werden in diesem Forum zweifach ernst genommen: erstens hinsichtlich der materiellen Faktizität ihres sonischen Ökosystems, zweitens hinsichtlich der religiösen Erfahrung, die jemand dort gemacht hat. Das Christentum schwankt hier scheinbar zwischen den zwei Polen, dazu einerseits viel zu viel beizutragen (nämlich die Kirchenmusik), andererseits überhaupt nichts (nämlich die unmittelbare Einheit von Sound und Gott). Der Schein dürfte trügen, aber diese Vermutung können nur Beiträge bestätigen. Sie werden Wegmarken sein für das geschwisterliche Gespräch verschiedener Religionen zum Thema Sounds.

Wegmarke: Joachim Ernst Berendt: Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Frankfurt a.M. 1983








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